Wie sich die sozialen Medien auf die Demokratie auswirken
Jede Medaille hat zwei Seiten – und bei Facebook, Twitter/X, Instagram und Co. ist diese Ambivalenz besonders stark ausgeprägt. Und so können auch Experten die Frage, ob soziale Medien die Demokratie gefährden, nicht eindeutig mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Klar ist aber: Medienkompetenz zu vermitteln, ist eine der großen Aufgaben der Gesellschaft. Das ist das Ergebnis der Vortrags- und Diskussionsveranstaltung des AWO Kreisverbandes Bremerhaven und der Arbeitnehmerkammer Bremen/Bremerhaven unter dem Motto „Wir müssen reden“.
80 Besucher*innen waren dazu ins Capitol an der Hafenstraße gekommen.
Bei der Betrachtung und Bewertung der zahlreichen Internet-Plattformen half der Vortrag des Soziologen Dr. Jan-Hinrik Schmidt vom Leibnitz-Institut in Hamburg: „Die sozialen Medien ködern mit einem Mitmach-Versprechen, jede/r kann sich einbringen und darstellen – dahinter stehen aber ganz klare kommerzielle und zum Beispiel bei Elon Musk und X auch politische Interessen.“ Im Gegensatz zu den klassischen Massenmedien Fernsehen, Radio und Zeitungen gebe es nicht einen journalistisch geprüften und bewerteten Inhalt, der allen angeboten wird, sondern auf Basis individueller Interessen und gesteuert von den Algorithmen zusammengestellte Inhalte.
Soziale Medien sehen sich als Intermediäre, sagt der Wissenschaftler: „Sie kreieren selbst keine eigenen Inhalte, aber schaffen Voraussetzungen, dass andere Akteure Inhalte verbreiten bzw. auffinden können.“ Durch ihre Selbsteinstufung als „Plattform“ wecken sie die Assoziation, reine „Durchleiter“ von Kommunikation und Interaktion zu sein. Schmidt: „Tatsächlich besitzen sie aber eine ganz eigene Medienlogik, die nicht neutral ist, sondern starken Einfluss auf Kommunikationsflüsse hat.“ Außerdem prallen im Netz zwei Arten der Kommunikation aufeinander: Publikation und Konversation.
Die Kommunikationsarchitektur sozialer Medien begünstige die Verbreitung von Desinformationen, verursache sie aber nicht, sagt Schmidt: „Algorithmische und nutzergenerierte Amplifikation fördern die Verbreitung, sodass soziale Medien als verstärkender Resonanzraum für Desinformationen fungieren können.“ Die Stärkung journalistischer Fakten-Checker-Angebote und die Verpflichtung der Plattformbetreiber, die Verbreitung von Desinformationen zu dämpfen, seien mögliche Gegenstrategien.
In der von Francine Fester (Bremen NEXT) umsichtig und professionell moderierten Podiumsdiskussion wurde schnell deutlich, dass ein Komplettverzicht auf soziale Medien für Unternehmen, Behörden, Verbände und Initiativen nicht mehr denkbar ist – für die Stärkung der eigenen Marke (Branding), für Personalgewinnung, für Hinweise auf Veranstaltungen und Angebote sowie den Austausch unter Mitgliedern. Volker Ortgies, Direktor der Ortspolizeibehörde: „Die sozialen Medien können die Polizeiarbeit unterstützen, aber auch massiv behindern.“ Ein Hinweis auf eine Verkehrsbehinderung oder Umleitung könne sinnvoll sein, die ungesteuerte Verbreitung von Falschinformationen aber sogar gefährliche Auswirkungen haben. Er verwies auf die Ereignisse des Amoklaufs in einer Bremerhavener Schule vor wenigen Jahren, als eine Flut von Posts Unwahrheiten verbreitete und zusätzlich Angst und Panik schürte.
Eckart Kroon, Geschäftsführer der Unternehmensgruppe AWO Bremerhaven, machte deutlich, dass die Folgen von Hassreden, Mobbing oder auch übermäßigem Konsum in vulnerablen Gruppen wie Kindern und Jugendlichen, psychisch Kranken und auch älteren Menschen spürbar sein: „Ich wünsche mir mehr Werteorientierung in der Kommunikation, eine ethisch-moralische Komponente und stärkere Korrektive. Fake-News sind so schnell in der Welt – wer liest dann noch Stunden später den Faktencheck?“ Dass sich ein Viertel der 15- bis 25-Jährigen ausschließlich der sozialen Medien als Nachrichtenquelle bedienen – so eine von Dr. Schmidt angeführte Statistik – hält Kroon für überaus bedenklich und zu einseitig: „Die Dosis macht das Gift.“
Swantje Schäfer, Student*in und politische Aktivistin, betonte, wie wichtig es für die Persönlichkeitsbildung von jungen Menschen sei, sich auszuprobieren, sich verschiedenen Gruppen anzuschließen und vielleicht auch verschiedene Netz-Identitäten auszuleben: „Es herrscht schon auch Verunsicherung bei jungen Leuten: Was kann ich posten, wo kann ich aktiv sein, welche Auswirkungen hat das auf Bewerbungen für einen neuen Job?“ Lea von der Mosel, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Social Media bei der Arbeitnehmerkammer, mahnte Differenzierung in der Bewertung der sozialen Netze an: „In Karriere- und Berufsnetzwerken herrscht selbst bei sehr konträren Auffassungen und Meinungen ja eine viel zivilisiertere Debattenkultur als bei Facebook oder X.“
„Soziale Medien“, so Referent Dr. Schmidt, „hängen immer davon ab, welche Akteure sie nutzen.“ Bewegungen wie „Me Too“, „Black Lives Matter“ oder auch „Fridays for Future” wären ohne soziale Medien nicht so erfolgreich gewesen. Wichtig sei es, den Digital Service Act in der Europäischen Union auszubauen und wirksam zu machen. Volker Ortgies und Eckart Kroon regten eine öffentlich-rechtliche Alternative zu Facebook und Co. an. „Viel hängt davon ab“, so Dr. Jan-Hinrik Schmidt, „wie wir als Gesellschaft auch in und mit den sozialen Medien miteinander sprechen und einander zuhören können und wollen.“ In aktuellen Entwicklungen sehe er aber durchaus eine höhere Gefahr für die Demokratie als in der Vergangenheit. „Und spannend wird“, so ergänzt Lea von der Mosel, „wie wir mit den neuen Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz (KI) umgehen.“